In seinem Hit aus dem Jahr 1972 singt Jimmy Cliff „I can see clearly now, the rain has gone.“ Kennen Sie bestimmt, oder? Interessant ist, dass es danach nicht etwa weitergeht mit: Alles ist super, nie wieder Probleme und alle sind happy, sondern mit
„I can see all obstacles in my way.“ In dem Songtext steckt die aus meiner Sicht kluge Einstellung zum Leben: Klarheit ist werthaft.
Denn es geht wohl nicht um ein Schwarz-Weiß-Denken, dass entweder alles in Ordnung ist oder alles im Chaos versinkt, sondern es geht darum, sich seiner Schwierigkeiten bewusst zu werden, sie klar zu sehen, um gut mit ihnen umgehen zu können. Vielleicht man kann die Hindernisse überwinden oder ihnen großräumig aus dem Weg gehen, man lernt mit ihnen zu leben oder man behält sie aus sicherer Entfernung im Blick und schaut, wie sie sich weiter entwickeln.
Der erste und entscheidende Schritt ist jedoch: Klarheit gewinnen.
Wenn ich als Einsatzleiter durch die Rettungsdienst-Leitstelle alarmiert werde, komme ich in der Regel in Situationen, die chaotisch sind: Informationen sind Mangelware, korrekte und bestätigte Informationen erst recht. Die Lage ist meist unübersichtlich, viele Eindrücke prasseln gleichzeitig auf mich ein. Der Handlungsdruck ist groß und gleichzeitig die vorhandenen Ressourcen gering. In solchen Situationen kommt es auf mehrere Punkte an: Zuerst braucht es die Fähigkeit, den Nebel auszuhalten, nicht zu wissen, welche Informationen stimmen, und dennoch präsent zu bleiben. Dann hilft es, einen Faden zu finden: Was zählt jetzt wirklich, was kann warten, was liegt ohnehin außerhalb meiner Reichweite? Irgendwann kommt der Moment, in dem man aufhört zu sortieren und einfach anfängt, zu handeln, auch wenn man weiß, dass man Fehler machen wird. Und schließlich: den Blick wieder heben und prüfen, ob die Richtung noch stimmt. Mehr ist es nicht, und doch alles. Denn so einzigartig die Situation aufgrund ihres hohen Stressfaktors erscheinen mag: All diese Situationen haben Muster. Wenn man das weiß, geht vieles leichter und man kann sich auf sein Handeln konzentrieren. Aus diesen Notfällen lässt sich viel auf andere Lebensbereiche übertragen und ableiten - auch wenn man dort in der Regel kein Blaulicht und Martinshorn braucht.
Auch im Privaten kann es schnell gehen, dass gewohnte Strukturen wegbrechen: nach einem Umzug, der das vertraute Umfeld zerschneidet, oder nach einer Trennung, die Routinen auflöst und Gewissheiten erschüttert. Plötzlich fehlen die alten Fixpunkte, Normen lösen sich auf und es stellt sich Unsicherheit ein. Was trägt jetzt noch, worauf ist Verlass, woran orientiere ich mich?
Das menschliche Gehirn ist darauf programmiert, so wenig Energie wie möglich zu verbrauchen. Deshalb mag es klare Strukturen, Orientierung und manchmal sogar einfache Schubladen. Alles Mechanismen, bei denen das Gehirn wenig arbeiten muss, sondern sich auf Automatismen, gewohnte Ablaufprogramme und Muster berufen kann. So müssen wir nicht mehr nachdenken, wie wir unsere Schnürsenkel binden, sondern tun es einfach. Automatisch. Oder wir müssen uns nicht jeden Tag einen Kopf machen, ob unser Job noch der richtige für uns ist. Wir machen ihn einfach.
Wenn jedoch Reize und Eindrücke unsere Wahrnehmung fordern, die neu, unbekannt oder sogar widersprüchlich sind zum Status Quo, gerät unser Gehirn in Aktion. Die Information, dass man einen neuen Vorgesetzten bekommt und der die Organisation richtig umkrempeln wird, sorgt für Alarmbereitschaft. Die vormals sichere Annahme, dass man den richtigen Job macht, wird in Frage gestellt und der Status Quo gerät ins Wanken. Neben den äußeren Informationen muss unser Gehirn dann auch noch mit inneren Informationen, nämlich den eigenen Gefühlen, klarkommen. Möglicherweise melden sich längst vergessene Ängste, Erinnerungen an frühere Veränderungen kommen ins Bewusstsein, alte Verletzungen tauchen auf und schmerzen.
Kurzum: Unser Gehirn ist im Stress und muss auf Hochtouren arbeiten. Wir sind im Stress und es arbeitet in uns. Die meisten von uns kennen solche Situationen und merken dann, dass sie beispielsweise innere Unruhe verspüren, schlecht schlafen oder gereizter sind als sonst.
Und jetzt passiert etwas einerseits Fantastisches, andererseits auch bisschen Doofes: Wir geraten in einen Automatismus. Bestimmt wissen Sie, dass wir Menschen unter Stress dazu neigen, primitive Verhaltensweisen zu zeigen, und Mechanismen, die als Neandertaler gegen den drohenden Säbelzahntiger sinnvoll waren, wieder auftreten - Stichwort: Fight, Flight, Freeze.
Das Gute: wir müssen nicht groß nachdenken, um zu überleben. Wir greifen einfach auf altbewährte Verhaltensweisen zurück, die uns beim letzten Stress erfolgreich geholfen haben, den Stress zu reduzieren. Im positiven Fall treiben wir also mehr Sport, gehen früher ins Bett und machen die Dinge, die uns eben guttun. Im ungünstigen Fall, essen wir mehr, steigern uns im Gedankenkarussel in alle erdenklichen Horrorszenarien hinein oder greifen zur Flasche.
Die spannende Frage ist dann, wie schnell es gelingt, aus dieser automatisierten Spirale herauszukommen und selbst wieder das Ruder in die Hand zu nehmen. Wie können wir unserem Gehirn (und uns) den Gefallen tun, wieder aus dem Chaos herauszukommen und für Orientierungspunkte zu sorgen?
„I can see clearly now, the rain has gone. I can see all obstacles in my way.“
Danke, Jimmy Cliff.
Und woher könnte diese Orientierung jetzt kommen? Von innen, von außen..?
Gute Frage.
Es liegt in der menschlichen Natur, dass wir uns gerne Verhaltensweisen von anderen abgucken. Wir sind schliesslich soziale Wesen und es hat das Überleben unserer Spezies schon ein paar Jahrtausende gesichert, dass wir miteinander und voneinander lernen. Also orientieren sich viele erstmal an anderen, die ihnen als Vorbild taugen: an dem Kollegen, der angesichts der drohenden Umstrukturierung präventiv kündigt und sich einen neuen Job sucht. An der Bekannten, die zur Gelassenheit rät und von Ihrer Erfahrung berichtet, dass Chefs kommen und gehen und man das einfach aussitzen müsse. Diese Optionen können wir als Denkangebote nutzen und für uns prüfen, wie es sich in der Fantasie anfühlt, wenn man zum Beispiel kündigen würde. Oder wenn man den neuen Chef stoisch aushielte.
Statt sich an der Außenwelt und mehr oder weniger hilfreichen Vorbildern zu orientieren, haben wir auch die Möglichkeit, in uns selbst hinein zu horchen. Das Entscheidende in Umbruchssituationen ist, sich Klarheit zu verschaffen und Handlungsoptionen zu erkennen. Wieso also nicht einfach mal mit den eigenen Werten, seinen Bedürfnissen und Zielen auseinandersetzen? Sich bewusst machen, welche Verantwortlichkeiten man hat, in welchen Rollen man ist und welche Prioritäten man selbst für sich und sein Leben daraus ableitet? Niemand könnte das schliesslich für uns besser beantworten als wir selbst, oder?
In einer Phase der Orientierungslosigkeit, in der uns die nötige Klarheit fehlt und wir unseren Kompass neu ausrichten, kann es hilfreich sein, sich die Situation aus einer Meta-Ebene zu betrachten. Das bedeutet, dass man Abstand gewinnt zum akuten Ereignis und beispielsweise erkennt, dass Chaos und Struktur sich als zwei natürliche Zustände in der Natur abwechseln und wie bei einem Pendel zu viel vom einen oft zum anderen führt.
Wer einen Schritt zurücktritt, erkennt: Systeme – ob Organisationen, Familien oder Menschen – haben eine erstaunliche Eigenschaft. Sie suchen nach Gleichgewicht. Auch wenn es kracht und wankt, bildet sich früher oder später eine neue Ordnung. Mal stabil, mal brüchig, aber immer irgendwie tragfähig.
Man sieht das auch in Gesellschaften: Revolutionen brechen Ordnung auf, doch früher oder später bildet sich ein neues Gefüge, das zwar anders ist, aber nie völlig chaotisch.
Dieses Wissen nimmt zwar nicht alle Sorgen, aber es macht gelassener und man erkennt, dass Chaos nicht der Endpunkt ist, sondern ein Durchgangsstadium. Mit anderen Worten: Es geht immer weiter.
So pathetisch es klingen mag, aber wir kennen alle Veränderungssituationen, die uns derart unter Stress setzen, dass wir in einen Tunnelblick geraten. In solchen Phasen, die uns alles abverlangen, kann die Zuversicht schon auch mal verloren gehen. Gerade dann ist es wichtig, sich diesen Umstand ins Bewusstsein zu holen: Wie auch immer die Zukunft aussehen wird, es geht weiter.
Okay, runter von der Meta-Ebene, kommen wir ins konkrete Handeln!
Unser Gehirn sucht nach Orientierung und wir helfen ihm dabei. Also fokussieren wir uns, priorisieren, eliminieren Überflüssiges und reduzieren auf das Wesentliche. Was ist uns wichtig, was ist uns wirklich wichtig, was sind nicht-verhandelbare Aspekte in unserem Leben, an denen wir nicht rütteln werden? Wenn der neue Chef am Horizont droht und wir Angst haben, unter ihm zu leiden, könnten wir uns beispielsweise bewusst machen, dass zum jetzigen Zeitpunkt nur unsere Ängste sehr stark sind, aber die Realität diese gar nicht bestätigt. Wenn wir unsere Arbeit sehr gerne machen, könnten wir uns überlegen, was wir selbst dafür tun können, um sie auch weiterhin tun zu können - trotz eventuell anstrengendem Chef.
In Umbruchphasen geht es auch darum, Transparenz zu gewinnen. Sowohl für sich als auch für das Umfeld, in dem man sich befindet bzw. arbeitet. Konkret bedeutet das, Zusammenhänge sichtbar zu machen, Abhängigkeiten und Wirkmechanismen zu erkennen und sie mit einem systemischen Verständnis einzuordnen. Für den Einzelnen kann das bedeuten, sich beispielsweise bewusst zu machen, dass man sich durch einen neuen und vermeintlich feindlichen Chef unsicher und in Frage gestellt fühlt. Vielleicht erinnert man sich dadurch an unangenehme Situationen aus der Vergangenheit. Oder man erkennt, wie wichtig einem das aktuelle Arbeitsumfeld ist, weil man dort seine Berufung gefunden hat und unter allen Umständen verhindern will, dass ein widerspenstiger Chef das kaputt macht. Die Erkenntnisse sind oftmals erstaunlich, was im einzelnen Menschen ausgelöst werden kann, wenn sich nur ein, zwei Variablen im Leben ändern und aus der vorherigen Ordnung plötzlich Unordnung oder gar Chaos wird.
Das alles verschafft Klarheit und gibt Orientierung, um ins Handeln kommen zu können und wieder eine Struktur zu erlangen. Damit sich unser Gehirn wieder in den Ruhemodus zurückziehen kann und nicht mehr in Alarmbereitschaft sein muss.
Chaos und Struktur sind wie Ebbe und Flut ganz normale Zustände, die einander abwechseln, ob wir wollen oder nicht. Die Frage ist nicht, ob wir sie kontrollieren, sondern ob wir mit ihnen schwimmen lernen. Zuviel Chaos lässt einen die Orientierung verlieren und macht Angst. Zuviel Struktur raubt die Flexibilität und ist lebensfremd. Die Kunst liegt darin, genug Orientierung zu gewinnen, um handlungsfähig zu bleiben, ohne sich in starrer Ordnung zu verlieren. Mal schauen wir auf andere, mal auf uns selbst. Langfristig bewährt es sich, seinen eigenen Kompass zu finden.
Damit das möglich wird und wir in unruhigen Phasen wieder Klarheit bekommen, braucht es Klarheit darüber, wie man mit Unsicherheit, Unordnung und Ungewissheit umgeht. Wieviel Struktur ist notwendig, um handlungsfähig zu bleiben, und ab wann wird Ordnung selbst zur Gefahr, weil sie jede Flexibilität erstickt?
Am Ende läuft es auf eine schlichte, aber entscheidende Frage hinaus: Wie finden Sie Klarheit, wenn Ordnung zerfällt?